Wilhelm Hauff

"Kontroverspredigt über H. Clauren

und den Mann im Mond" (1827)

Aufgaben

"(…) Und wenn es die Pflicht des Redners ist, meine Freunde, der Gemeinde darzuthun, welchen Irrtümern sie sich hingebe, welche bösen Gewohnheiten unter ihr herrschen, wenn es die Natur der Sache erfordert, bei einer solchen Aufdeckung von Irrtümern und böslichen Gewohnheiten bis ins Einzelne und Kleinste zu gehen, weil oft gerade dort recht ins Auge fallend der Teufel nachgewiesen werden kann, der darin sein Spiel treibt, so kann es niemand befremden, wenn wir nach Anleitung der Tagesworte mit einander eine Betrachtung anstellen über:Den Mann im Mond von H. Clauren. (…)

Es hat in unserer Literatur nie an sogenannten Volksmännern gefehlt, as heißt an solchen, die für ein großes Publikum schreiben, das, je allgemeiner es war, desto weniger auf wahre Bildung Anspruch machen konnte und wollte. Solche Volksmänner waren jene, die sich an den Grad der Bildung ihres Publikums schmiegten, die eingingen in den Ideenkreis ihrer Zuhörer und Leser und sich (…) wohl hüteten, jemals sich höher zu versteigen, weil sie sonst ihr Publikum verloren hätten. Diese Leute handelten bei den größten Geistern der Nation, welche dem Volke zu hoch waren, Gedanken und Wendungen ein, machten sie nach ihrem Geschmack zurecht und gaben sie wiederum ihren Leuten preis, die solche mit Jubel und Herzenslust verschlangen. Diese Volksmänner sind die Zwischenhändler geworden und sind anzusehen wie die Unternehmer von Gassenwirtschaften und Winkelschenken. Sie nehmen ihren Wein von den großen Handlungen, wo er ihnen echt und lauter gegeben wird; sie mischen ihn, weil er dem Volke anders nicht munden will, mit einigem gebrannten Wasser und Zucker, färben ihn mit roten Beeren, daß er lieblich anzuschauen ist, und verzapfen ihn ihren Kunden unter irgend einem bedeutungsvollen Namen.

Diese Gassenwirte oder Volksmänner treiben aber eine schändliche und schädliche Wirtschaft. Sie fühlen selbst, daß ihr Gebräu sich nicht halten werde, daß es den Ruf von Wein auf die Dauer nicht behalten könne, wenn er nicht berausche. Daher nehmen sie Tollkirschen und allerlei dergleichen, was den Leuten die Sinne schwindeln macht; oder, um die Sache anders auszudrücken, sie bauen ihre Dichtungen auf eine gewisse Sinnlichkeit, die sie, wie es unter einem gewissen Teil von Frauenspersonen Sitte ist, künstlich verhüllen, um durch den Schleier, den sie darüber gehüllt haben, das lüsterne Auge desto mehr zu reizen. Sie kleiden ihr Gewerbe in einen angenehmen Stil, der die Einbildungskraft leicht anregt, ohne den Kopf mit überflüssigen Gedanken zu beschweren; sie geben sich das Ansehen von heiterem, sorglosem Wesen, von einer gewissen gutmütigen Natürlichkeit, . die lebt und leben läßt; sie sind arglose Leute, die ja nichts wollen, als ihrem Nebenmenschen seine 'oft trüben Stunden erheitern' und ihn auf eine natürliche, unschuldige Weise ergötzen. Aber gerade dies sind die Wölfe in Schafskleidern, das ist der Teufel in der Kutte, und die Krallen kommen frühe genug ans Tageslicht. (…)

Was soll ich von Goethe reden? Kaum, daß ihr es über euch vermögen konntet, seine Wahlverwandschaften zu lesen, weil man euch sagte, es finden sich dort einige sogenannte pikante Stelen, - ihr konntet ihm keinen Geschmack abgewinnen, er war euch zu vornehm.

Da war eines Tages in den Buchläden ausgehängt: "Mimili, eine Schweizergeschichte." Man las, man staunte. Siehe da, eine gute Manier zu erzählen, so angenehm, so natürlich, so rührend und so reizend! Und in diesen vier Worten habt ihr in der That die Vorzüge und den Gehalt jenes Buches ausgesprochen.

[Angenehm] Man würde lügen, wollte man nicht auf den ersten Anblick diese Manier angenehm finden. (…) Eine angenehme Musik, so zwischen Schlafen und Wachen, die uns einwiegt und in süße Träume hinüber lullt. Siehe, so die Sprache, so die Form jener neuen Manier, die euch entzückte.

[Natürlich] (…) Kurz, es ist nichts vergessen, die Natur ist nicht nur nachgeahmt, sondern förmlich kopiert und getreulich abgeschrieben. Aber leider ist es nur die Natur, so wie man sie mittels einer Camera obscura abzeichnen kann. Der warme Odem Gottes, der Geist, der in der Natur lebt, ist weggeblieben, weil man nur das Kostüm der Natur kopierte. Zeichnet die nächste beste Schweizer Milchmagd ab, so habt ihr eine Mimili und freilich alles so natürlich wie möglich.

[Rührend](…) Je greulicher der Schmerz eines Liebespaares ist, von welchem ihr leset, desto angenehmer fühlet ihr euch angeregt. Da wollet ihr keine Natürlichkeit, da soll es recht arg und tückisch zugehen, und wie den spanischen Inquisitoren, so ist euch ein solches Auto-da-fe ein Freudenfest.(…) und doch habt ihr dabei imme rnoch den Trost in petto, daß der Autor, der diesen Jammer arrangiert, zugleich Chirurg ist und die verrengten Glieder wieder einrichtet, zugleich Notar, um den Heiratskontrakt schnell zu fertigen, zugleich auch Pfarrer, um die guten Leutchen zusammenzugeben.

[Reizend] (…) Das ist die Sinnlichkeit, die [Clauren] aufregt, das sind jene reizenden, verführenden, lockenden Bilder, die eurem Auge angenehm erscheinen. (…) Armseliges Männervolk, daß du keinen höheren geistigen Genuß kennst, als die körperlichen Reize eines Weibes gedruckt zu lesen, zu lesen von einem Marmorbusen, von hüpfenden Schneehügeln, von schönen Hüften, von weißen Knien, von wohlgeformten Waden (…). Armseliges Geschlecht der Weiber, die ihr aus Clauren Bildung schöpfen wollet, errötet ihr nicht vor der Unmut, wenn ihr leset, daß man nur eurem Körper huldigt, daß (…) das lüsterne Auge eures Geliebten mehr entzückt als die heilige Flamme reiner Liebe, die in eurem Auge glüht, als die Götterfunken dses Witzes, der Laune, welche die Liebe eurem Geiste entlockt?

(…) Die Mimili-Manier wurde zur Mimili-Manie, wurde zur Mode. Was war natürlicher als das Clauren eine Fabrik dieses köstlichen Zeugs anlegte (…)."


Aufgaben

  1. Was sind Hauffs zentrale Argumente?
  2. Welche Kriterien für Populärliteratur entwickelt er?
  3. Wer bildet, nach Hauff, die Leserschaft der Populärliteratur? Warum?
  4. Welches Verhältnis, nach Hauff, haben sogenannte Hochliteratur und Populärliteratur zueinander?
  5. Wie geht Hauff sprachlich vor, um sein Argument zu untermauern? Gibt es hier möglicherweise einen Widerspruch zwischen seiner Aussage und seiner Methode?
  6. Diskutieren Sie die Kritik Hauffs anhand des Mimili-Ausschnitts ! Inwiefern meinen Sie, dass seine Kritik zutrifft, inwiefern irrt er sich? Warum?


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