MIMILI (1816)

von Heinrich Clauren

S. 9-13

Aufgaben

"Endlich war die Sennhütte erreicht. Sie hatte eine so himmlische Lage und der Senner war ein so freundlicher Mensch, daß ich mich gleich entschloß, hier zu übernachten und den führer nach Unterseen zurückzuschicken. Den folgenden Morgen wollte der Senner mir seinen Buben bis Grindelwald mitgeben.

Der Senner war arm, wie alle seinesgleichen. Er bot mir frisches Heu zum Lager und Milch und Käse zum Abendbrot an. Ich dankte ihm und eilte zur Hütte hinaus, um keinen Augenblick, solange es noch Tag war, den großen, den unbeschreiblichen Genuß zu verlieren, den hier die Natur bot. Ich legte mich auf die blühenden Matten und schwelgte in der schönsten Freude des Menschen, in der Freude über Gottes wundervolle Welt.

Die Jungfrau lag in ihrer ganzen Pracht dicht vor mir. (Dieser weltberühmte Gletscher liegt 10 422 Fuß höher als das Dorf Lauterbrunn, aus dem ich eben kam.) Hinter und neben ihr ragten das Mittag-Horn, das Tschingelhorn, Eben-Flüe und andere Riesengletscher hinauf; aber die Jungfrau hob über alle diese himmelhohen Felsen ihr silbergeschmücktes Haupt in die azurblauen regionen ihres Gottes empor!

Das sind die ewigen Grundpfeiler der Erde, diese zu den Wolken starrenden ungeheuren Granitfelsen!

Sonst - als der Erdball noch rundum im Wasser schwamm, mögen sie über dem Spiegel jenes unermeßlichen Ozeans hervorgeragt haben als grünende Inselpunkte. Tausende von Jahren sind seitdem vergangen, Meere, Weltmeere sind seitdem vertrocknet, und diese Riesenfelsen stehen noch. Ihre ehrwürdigen Scheitel sind mit ewigem Eis bedeckt, ihre höchsten Gipfel betrat noch kein menschlicher Fuß! Sie schaffen und wirken und treiben im stillen ihr Groes und Gutes, denn sie - sie speisen das schwarze und Mittelmeer, das adriatische und die Nordsee und tränken die Länder Europas mit tausend Strömen, die ihren unerschöpflichen Tiefen entquellen.

Icfh lag auf blumigem Rasen, und drüben die eisigen Gletscher. Selbst der Gipfel meiner Alpe war noch mit Schnee bedeckt.

Rund um mich herum war alles so still, als habe hier der ewige Friede seine Altäre gebaut. Tief unter mir das freundliche Lauterbrunner - und das schauerlich-furchtbare Ammertental, und in der Ferne das Tosen der Sturzbäche, die seit Jahrtausenden sich in die Täler ergießen und nimmer versiegen; und weiter hinab das Rädergeklapper der SChmelzhütten und Frischfeuer, und weiter hinauf das einsame Klingeln der zerstreuten Herden, zuweilen wohl auch das Meckern einer jungen Geiß, hier Ziggi genannt, oder das Schwirren eines lustigen Käfers, der sich bis hierher verirrte, um das Getümmel der Welt einmal von oben zu beschauen.

Der Abend war milde und warm; ein leiser Zephyr wehte von den eisigen Gletschern sanfte Kühlung herüber, und Milionen duftiger Blumen würzten die reine Bergluft mit ihren balsamischen Wohlgerüchen.

Es war einer der seligsten Augenblicke meines Lebens. ich staunte immer mit neuem Entzücken von meinem blühenden Klee die Wunderwerke der unbekannten gigantischen Schneewelt da drüben an; ich schlürfte die würzige Atmosphäre mit vollen Zügen ein.

Eine namenlose Behaglichkeit ergoß sich über mein ganzes Inneres, ich hätte laut mich freuen mögen, wenn nicht eine gewisse De- oder Wehmut mein Gemüt gefesselt hätte. ich kann es nicht beschreiben, aber es kam mir vor, alswär' ich so fromm noch nie gewesen. Der uralte, ungeheure Koloß von Granitfelsen und funkelndem Eis mir gegenüber - was war es weiter, als ein kleiner Eiszacken gegen die Myriaden von Sternenwelten am dunklen Himmel der Mitternacht.

Ich faltete die Hände und betete. Gott war mir nie näher gewesen; da hörte ich Menschentritte in der Ferne. (…)

(…) aber diesem Mädchen jetzt gegenüber mußte ich wieder in dem süßen Wahn mich verwirren, als sei dieses liebliche Wesen eine Erscheinung aus der Dichterwelt jener seligen Vorzeit, wo die Unschuld in Menschengestalt auf der Erde weilte.

Das schwarze Lockenköpfchen schirmte ein großer italienischer Strohhut, an dem ein Strauß von frischen Wiesenblumen schwankte; zwei lange blaßblaue Bänder flatterten von der breiten Krempe bis zur Hüfte herab. In den großen blauen Augen spiegelte sich die sanfteste Freundlichkeit, die argloseste Kindlichkeit, die fromme Liebe selbst. Herrlich wölbten sich über diesen stillen Sprechern der Seele und des Herzens die schwarzen Bogen der Augenbrauen, und die langen seidenen Wimpern brachen den Feuerstrahl ihres glühenden Blickes. Jugend und Gesundheit blühten im Grübchen der Wange, auf den Purpurlippen und in der Fülle ihres ganzen schönen Körpers.

Das Brüstli wie das Miederchen war von schwarzem Samt, geschnürt mit goldenen Kettchen und reich und geschmackvoll gestickt mit Gold und buntfarbiger Seide. Die weiten Ärmel vom allerfeinsten Batist reichten vor bis zur kleinen Hand; und gleichfalls vom nämlichen Batist war das Hemdchen, das den blenden weißen Hals und den Busen züchtiglich verhüllte. Das schwarzseidene, hundertfältige Röckchen reichte kaum bis über das Knie, so daß die Zipfel der buntgestickten Strumpfbänder die fein geformte Wade sichtbar umspielten; die Blumen der Matten aber küßten das Blütenweiß ihres feinen, baumwollenen Strümpfchens, das den zartesten kleinsten Fuß verriet. Vom Hinterkopfe hingen dem Mädchen zwei geflochtene braunschwarze handbreite Zöpfe bis in die Kniekehle hinab, und am Arme schaukelte ein Körbchen, gar zierlich gearbeitet und künstlich durchflochten mit Rosen und samtenen Fäden. Im ganzen Wesen der himmlischen Erscheinung die frische Kräftigkeit der unverdorbensten Alpenbewohnerin, und doch der Anstand, die Haltung der gebildeten Städterin!

Das Mädchen wollte hier übernachten!

"Du lieber Goitt, warum tust du mir das!" rief ich fragend heimlich in die Wolken und warf einen Blick auf die unter mir liegende arme Welt, daß es mir vorkam, als schmelze das Eis der Jungfrau und ihrer Nachbarn vor seinem verzehrenden Feuer in brühende Lava über.


Aufgaben

  1. Wie schildert Clauren die Schweizer Berglandschaft?
  2. Wie beschreibt er das Mädchen Mimili? Gibt es Ähnlichkeiten/Unterschiede in der Beschreibung? Welche?
  3. Welches Verhältnis von Natur und Frauenkörper entsteht durch Claurens Prosa?
  4. Welche Funktion hat dieses Verhältnis im Kontext der Romantik und des angehenden19. Jahrhunderts?
  5. Vergleichen Sie nun Claurens Text mit Hallers "Alpen" Gedicht. Was stellen Sie fest?
  6. Vergleichen Sie den Erzählstil der Mimili mit dem Auszug aus Goethes Werther.
  7. Vergleichen Sie ausserdem Mimili mit dem ersten Kapitel von Marlitts Heideprinzesschen. Was stellen Sie fest?


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